Wie ist der Brauch entstanden?
Wenn man heute über die Felder des Odenwalds blickt, sieht man glänzende Erntemaschinen, die mühelos die Früchte des Bodens einfahren. Der Mensch ist kaum mehr zu sehen, nur das leise Summen der Technik und das Rattern der Mähdrescher begleiten die Ernte. Doch einst war die Feldarbeit Handwerk, Herzblut und Gemeinschaft. Männer und Frauen standen Seite an Seite, schwitzten unter der Sonne, banden Garben und spürten in jeder Bewegung die Verbindung zur Erde.
Am Ende der Erntezeit erfüllte tiefe Dankbarkeit die Herzen. Dankbarkeit dafür, dass das Korn reif geworden, dass das Wetter gnädig gewesen war, dass man genug hatte, um den Winter zu überstehen. Schon lange vor dem Christentum feierten die Menschen dieses Geschenk des Lebens. Die Kelten, Germanen und Römer ehrten ihre Götter mit Opfergaben und Festen, um für die Fülle der Felder zu danken.
Erst das Christentum verwandelte dieses „heidnische“ Fest in das, was wir heute als Erntedankfest kennen. Nun wurde der Dank an den einen Gott gerichtet, mit Gebeten, Liedern und geschmückten Altären, voller Früchte und Ähren. Dies alles als Sinnbild der Fülle und des Lebens. Seit Jahrhunderten feiern Christen den Erntedank am ersten Sonntag im Oktober. Dies ist ein Fest des Innehaltens, der Freude und des Staunens über die Gaben der Erde.


Wie wird der Brauch gelebt?
Für die Landbevölkerung war die Erntezeit ein heiliger Rhythmus. Sie begann zu Jakobi, am 25. Juli. Mit kleinen, scharfen Sicheln schnitten die Bauern ihr Getreide, mühsam, aber mit Stolz. War die Arbeit vollbracht, wurde die Sichel feierlich in der Scheune aufgehängt – der sogenannte „Sichelhenk“, ein Symbol für das Ende der harten Feldarbeit.
Beim Hafermähen schnitten die Schnitter die Halme spiralförmig, wie eine Sonne auf der Erde. In der Mitte blieb oft ein kleines Bündel stehen, das „Hafermännchen“ oder die „Haferbobb“ genannt wurde. Es wachte über das Feld, bis es schließlich eingesammelt und verbrannt wurde. Derjenige, der die meisten Hafermännchen fand, wurde zum Haferkönig gekrönt. Dies war ein fröhlicher Wettstreit, der in den Dörfern für Heiterkeit sorgte.
Der Zahl 7 kommt zur Erntezeit eine große Bedeutung zu. Es wurden die ersten oder die letzten 7 Ähren des Feldes zu einem Strauß zusammengebunden und im Wohnraum des Bauern aufgehängt. Mit der nächsten Aussaat wurden die erhaltenen Körner dem Saatgut beigegeben. Beim Ernten der Frucht ließ man auf einer Ecke des Feldes einen kleinen Teil der Früchte stehen, verbunden mit dem Wunsch, dass im nächsten Jahr die Frucht wieder wachsen möge.
Wenn der letzte Erntewagen durchs Dorf rollte, war das ein Ereignis. Mit Zweigen, bunten Bändern und Blumen geschmückt, zogen die Pferde oder Ochsen den Wagen heimwärts. Auf ihm thronte die Erntekrone, geflochten aus goldenen Ähren und farbenfrohen Feldblumen. Lachen, Gesang und Peitschenknall begleiteten den Zug.
Auf dem Hof überreichten die Knechte und Mägde dem Bauern die Krone mit einem feierlichen Gedicht. Dann begann das fröhliche Fest, der „Ährnball“. Junge Mädchen und Burschen fassten die langen Bänder, die von der Krone herabhingen, und tanzten, lachten, flochten bunte Muster bis tief in die Nacht hinein.
Zum Erntedank gab es auch süße Leckereien, die „Staabkräppel“. Dies sind, kleine, eckige Gebäckstücke, leicht bestäubt vom Staub der Dreschzeit, der Name sagt es schon.
Nicht jeder Bauer brachte seine Ernte pünktlich ein. Wer der Letzte war, bekam den „Ehrenfitz’l“, eine Strohpuppe als augenzwinkernde Mahnung, beim nächsten Mal fleißiger zu sein.
Gefeiert wurde auf der Tenne, dem Herz der Scheune, wo die Garben lagerten und später gedroschen wurden. Der gestampfte Lehmboden bebte unter den Füßen, wenn die Dorfbewohner tanzten, erfüllt von Lachen, Musik und dem Duft von Stroh und Brot.
Und so blieb, über Jahrhunderte hinweg, der Sinn dieses Festes gleich:
Dank zu sagen – für das, was gewachsen ist, für das, was man gemeinsam geschafft hat, und für die Hoffnung, dass auch das nächste Jahr wieder gute Früchte trägt.



