Wie ist der Brauch entstanden?
Alle sieben Jahre verwandelt sich Biedenkopf in ein Meer aus Fahnen, Musik und Gemeinschaft. Der Grenzgang, eines der ältesten und bedeutendsten Heimatfeste Mittelhessens, ist für die Menschen hier weit mehr als nur ein Brauch. Es ist das Symbol ihrer Verbundenheit mit Stadt und Wald, ein Fest, das Vergangenheit und Gegenwart zu einer lebendigen Tradition verbindet.
Seinen Ursprung hat der Grenzgang im 17. Jahrhundert. Damals war das Vermessen von Grenzen kein Verwaltungsakt, sondern eine ernste Angelegenheit. Zwischen Biedenkopf und seinen Nachbargemeinden kam es immer wieder zu Streitigkeiten über die Lage der Grenzmarken. Um sicherzugehen, dass niemand die Zeichen zu Ungunsten der Stadt versetzte, zogen die Bürger, gemeinsam mit Vertretern der Nachbardörfer, regelmäßig hinaus in die Wälder, um den Verlauf der Grenze zu überprüfen.
Mit der Einführung schwerer Grenzsteine und der Entstehung genauer Kataster im 19. Jahrhundert verlor diese Begehung ihren praktischen Zweck. Doch die Biedenköpfer hielten an ihr fest. Aus dem ernsten Kontrollgang wurde ein fröhliches Volksfest, das erstmals 1839 gefeiert wurde. Seitdem wird nicht mehr die Grenze der Gemarkung, sondern die des Stadtwaldes umgangen und der Grenzgang ist zu einem stolzen Symbol der Heimat geworden.
In den folgenden Jahrzehnten prägten engagierte Bürger das Fest. 1881 gründeten sie ein Grenzgangskomitee, das bis heute die Organisation trägt. Seit dieser Zeit findet das Fest, wenn nicht Krieg oder Not es verhindern, alle sieben Jahre statt. Immer am dritten Augustwochenende ruft es Jung und Alt hinaus „in de Waald“.
Der Grenzgang ist heute mehr als nur Tradition. Er ist Ausdruck des Zusammenhalts, der Heimatverbundenheit und des Stolzes einer ganzen Stadt. Wenn in sieben Jahren wieder die Böller vom Schlossberg hallen, weiß jeder in Biedenkopf:
Der Wald ruft – und wir folgen.

Wie wird der Brauch gelebt?
Schon Monate vor dem großen Ereignis beginnt in Biedenkopf die Vorfreude. Männergesellschaften und Burschenschaften formieren sich, wählen ihre Führer und Reiter, und in den Stammlokalen wird beraten, geplant und gefeiert. Frauen und Mädchen sticken kunstvolle Schleifen mit der Jahreszahl des kommenden Festes und überreichen sie feierlich an „ihre“ Gesellschaften – ein zärtliches Zeichen der Zugehörigkeit.
Wenn der Grenzgang näher rückt, verändert sich das Stadtbild. Überall riecht es nach frischem Fichtengrün. Hunderte junge Bäume werden aus dem Stadtwald geholt, um Straßen und Häuser zu schmücken. Girlanden aus Zweigen und Bändern hängen über den Gassen, und die Menschen sagen mit Stolz:
„Da Waald kimmt ih de Stoad!“ – Der Wald kommt in die Stadt!
Am Mittwochabend vor dem ersten Grenzgangstag beginnt das Fest mit dem traditionellen Kommers. Auf dem Marktplatz treffen sich Bürger, Gäste und Musikkapellen, die Stimmung ist ausgelassen und voller Erwartung.
Dann kommt der große Moment: Am frühen Donnerstagmorgen wecken Böllerschüsse vom Schlossberg die Stadt. Aus allen Stadtteilen ziehen Männergesellschaften und Burschenschaften unter Musik zum Marktplatz. Dort werden Reden gehalten, die Stadtfahne gehisst und der Verstorbenen gedacht. Danach ertönt der Befehl des Bürgerobersts:
„Grenzgang – Marsch!“
Angeführt von den Sappeuren in Waldarbeiterkleidung mit Axt und Schurz setzt sich der Zug in Bewegung. Es folgen die Stadtfahne, der Bürgeroberst zu Pferde mit seinen Adjutanten, der Männerhauptmann, der Burschenoberst und der Burschenhauptmann. Mitten im Zug ziehen drei Symbolfiguren besondere Blicke auf sich:
Der Mohr, eine traditionsreiche Gestalt mit schwarzer Uniform, Goldknöpfen, Krummsäbel und geschwärztem Gesicht. Er war einst dazu bestimmt, ungebetene Gäste abzuschrecken – heute gilt er als Glücksbringer, und wer seine schwarze Spur im Gesicht trägt, trägt sie mit Stolz.
An seiner Seite die beiden Wettläufer, schnell, wendig und mit Peitschen ausgestattet, deren Knall weithin durch den Wald hallt. Sie übermitteln Nachrichten zwischen den Offizieren und sorgen mit ihren Vorführungen für Begeisterung.
Drei Tage dauert die Begehung der Stadtwaldgrenze.
Am ersten Tag führt der Weg über den Kleeberg hinauf zur Sackpfeife – der höchste und anstrengendste Anstieg.
Der zweite Tag gilt als der leichteste und führt über Wiesen und Täler bis zur Erlenmühle.
Am dritten Tag wandert der Zug rechts der Lahn entlang, vorbei am Gespaltenen Stein bis zum Gonzhäuser Feld – eine lange, stolze Etappe, die den Grenzgang beschließt.
Während der Rastplätze wird gefeiert, gesungen und gelacht. Gäste werden „unter die Fahne“ genommen und durch dreimaliges Hochwerfen begrüßt. Wer das erste Mal teilnimmt, erlebt das „Huppchen“ – eine symbolische Aufnahme in die Gemeinschaft, bei der der Grenzstein berührt wird mit den Worten:
„Der Stein – die Grenze – in Ewigkeit.“
Am Ende des dritten Tages kehrt der Zug zurück in die Stadt. Auf dem Marktplatz versammeln sich alle Gesellschaften und Fahnen, und der Bürgeroberst würdigt das Fest in einer Ansprache. Dann zieht die Menge zum Festplatz, wo Musik, Tanz und Freude den Grenzgang ausklingen lassen



