Kerb im vorderen Odenwald

Wie ist der Brauch entstanden?

Wenn im Lautertal und entlang der Bergstraße der Sommer langsam Abschied nimmt, wenn die Äpfel rot in den Bäumen hängen und die Abende länger werden, dann zieht ein ganz besonderer Zauber durchs Land, die Zeit der Kerb ist gekommen. Für viele ist sie nicht einfach ein Fest, sondern der Höhepunkt des Jahres, der wahre Feiertag des Dorfes.

Schon unsere Vorfahren wussten, dass das Leben mehr ist als Arbeit und Sorge. In alten Zeiten, lange bevor die Kirchenglocken über die Dörfer klangen, feierten die Menschen Erntefeste, um den Göttern für die Früchte des Feldes zu danken. Später, mit der Christianisierung, wurde daraus die Kirchweih, die Weihe des Gotteshauses und das Fest der Gemeinschaft. Doch der ursprüngliche Geist, das Lachen, das Tanzen, die Freude am Leben, all das blieb.

So ist die Kerb bis heute ein Fest des Dankes und der Lebensfreude, ein Symbol dafür, dass man gemeinsam über das Jahr gekommen ist.

Der Name selbst – „Kerb“, „Kerwe“, „Kirb“ oder „Kirwe“ – trägt Geschichte in sich. Manche sagen, er komme vom „Kerbholz“, jenem Stück Holz, in das man Schulden einkerbte, um sie später zu begleichen. Wenn also am Ende des Jahres alles verrechnet wurde, war die Zeit reif, zu feiern, die Zeit, das Alte zu beenden und das Neue zu begrüßen.

Viele Dörfer gaben ihrer Kerb eigene Namen, „Brennesselkerb“, „Keeskuchekerb“, „Quetschekuchekerb“ oder „Mauchelscheskerb“ und viele mehr. Jeder Name erzählt eine kleine Geschichte, oft mit Augenzwinkern, immer mit Liebe zum Eigenen.

Woher kommt der Namen Kerb?
Eine Möglichkeit, außer der Verbindung zur Kirche (Kirchweih, Kirmes), ist eine Verbindung mit den Kerbhölzern oder Kerbzettel.

Kerbhölzer oder Kerbzettel

Im Mittelalter, wo eine geregelte Geldwirtschaft noch nicht existierte, mußte und hatte man andere Möglichkeiten gefunden um Waren anzuschreiben und sie später zu verrechnen. Dies geschah mit dem sogenannten Kerbholz, dem Kerbstock oder dem  Kerbzettel. Der Kerbstock galt bei mittelalterlichen Gerichten als Beweismittel.
Ein Kerbholz, auch Kerbstock, Zählholz oder Zählstab genannt, ist eine frühzeitliche und mittelalterliche Zählliste. Es diente meist dazu, bilaterale Schuldverhältnisse fälschungssicher zu dokumentieren.
Die Menge der zu verrechnenden Waren wurde  beidseitig auf ein geeignetes längliches Brettchen oder Holzscheit eingekerbt, oder ein Stück Papier diente dem gleichen Zweck. Danach wurde das Holz zerbrochen ( gespalten ) oder das Papier zerrissen. Beide Parteien, Käufer und Verkäufer erhielten je ein Stück. Diese Stücke wurden das Jahr über aufgehoben. Wenn dann die Erntezeit gekommen war, somit die einzige Zeit des Jahres, in welcher etwas Überfluß herrschte, wurden dann die Kerbhölzer und Zettel am sogenannten Zahltag gegeneinander verrechnet. Da jedes Kerbholz ( durch die Bruchrichtung oder Spaltrichtung bedingt ) durchaus als Unikat zu bezeichnen war, konnten somit auch nur jene Hölzer zusammengesetzt werden die auch zusammenpassten. Anhand der Anzahl eingekerbten Kerben konnten dann die Waren verrechnet und bezahlt werden. „Der hat auch noch einiges auf dem Kerbholz“, das heißt, er hat seine Schulden noch nicht bezahlt.

Wie wird der Brauch gelebt?

Die Kerb war von jeher das Werk der Kerbburschen und Kerbmädchen, junger Leute, die das Dorf mit Leben erfüllten. Schon eine Woche vor dem großen Fest begann das geschäftige Treiben. Man traf sich, um die Kerbkasse zu füllen, Bänder und Papier für die Dekoration zu kaufen, und um den Kerbkranz zu binden, das stolze Symbol des Festes.
Aus Fichtenreisig, Buchsbaum und Blumen wuchs er zu einem grünen, duftenden Kranz, geschmückt mit bunten Bändern. Dabei wurde gelacht, gesungen, gescherzt und manchmal, so sagt man, begann beim Kranzwickeln auch die eine oder andere Dorfromanze.

Am Kerbsonntag war es dann soweit. Nach dem sonntäglichen Mittagessen wurde der Kerwekranz von Kerbmädchen oder den Kerbburschen in der Nähe des Ortseinganges versteckt und zwar dort, wo man im Jahr zuvor die Kerb beerdigt hatte. Vielfach wurde ein Loch gegraben in das der Kerbkranz hineingelegt und mit Gras oder Laub bedeckt wurde.
Nach dem Mittagessen zog das Dorf festlich gekleidet hinaus. Der Kerweumzug setzte sich in Bewegung. Angeführt wurde er vom Kerbpfarrer, der mit Bäffchen, Hut und dickem Buch auftrat, bereit, den versammelten Dorfbewohnern seine humorvolle „Kerbred“ zu halten. Neben ihm der Bajass, bunt behängt und mit einer Schweinsblase in der Hand, der mit Schalk im Nacken für Ordnung und Gelächter sorgte.
Hinter ihnen folgten die Gestalten des dörflichen Lebens, die Doppelsiwwel, halb Frau, halb Bursche, die Handwerksburschen auf der Walz, der Schornsteinfeger, der Fahnenschwinger, das Schimmelchen, ein kunstvoll gebautes Pferd aus alten Sieben und Stangen. Sie alle waren Teil eines farbenfrohen Zuges, der durch die Straßen zog, begleitet von Musik, Lachen und dem Duft frisch gebackenen Kuchens. Mundschenk, Altes Paar, Gendarm, Strohmann und weitere traditionelle Figuren bereichern den Kerweumzug.
Die Menschen standen an den Fenstern, winkten, lachten und warfen Bonbons oder Äpfel. Kinder liefen dem Zug hinterher, und wer Glück hatte, bekam vom Wirt oder vom Krugträger einen Schluck Wein, auf dass die Kehle nicht zu trocken blieb.

Der Kerbmontag gehörte den Dorfbewohnern allein. Wenn die auswärtigen Gäste heimgekehrt waren, wurde im kleinen Kreis weitergefeiert. Musikanten zogen durch die Straßen und spielten Ständchen, man tanzte, lachte, aß und trank.
Doch wie alles Schöne im Leben fand auch die Kerb ihr Ende. Am späten Abend, wenn das letzte Lied verklungen war, zogen die Kerbburschen hinaus ins Dunkel, begleitet von den Mädchen, den Kranz im Arm. Dort, außerhalb des Dorfes, beerdigten sie die Kerb, mit einer Flasche Wein, einer letzten Rede des Kerbpfarrers und mancher Träne, die sich ins Lachen mischte.

„Bis nächstes Jahr“, flüsterte man, „dann holen wir dich wieder hervor.“

Und so ist es bis heute geblieben. Jedes Jahr wird die Kerb neu geboren, jedes Jahr aufs Neue gefeiert, mit Herz, Humor und Gemeinschaftssinn. Denn die Kerb ist mehr als ein Fest. Sie ist das, was ein Dorf lebendig macht, Erinnerung, Freude und das Gefühl, dazuzugehören.