Wie ist der Brauch entstanden?
Der Name „Silvester“ selbst ehrt Papst Silvester, der im Jahr 313 n. Chr. sein Amt antrat, als Kaiser Konstantin das Christentum zur Staatsreligion erhob. Doch lange bevor der 31. Dezember durch die Einführung des Gregorianischen Kalenders im Jahr 1582 fest mit Silvester verbunden wurde, war dieser Jahreswechsel eine zutiefst ernste, beinahe unheimliche Angelegenheit.
Die Schwelle vom alten zum neuen Jahr galt als von dunklen Ahnungen durchdrungen. Es war eine Zeit, in der böse Geister, Hexen und Dämonen die Welt durchstreiften. Um diese Gestalten zu vertreiben und einen sicheren Übergang zu gewährleisten, griffen die Menschen zu lautstarken Riten. Lärm, so glaubte man, war den Dämonen zuwider. Und so dröhnten Peitschenknallen, Rasseln und Schüsse durch die Nacht. Aus diesem archaischen Brauch entwickelte sich das funkelnde, lärmende Feuerwerk, das wir heute noch zur Jahreswende zünden. Um der Bedrohung zu trotzen, feierte man traditionsgemäß in der Gemeinschaft oder im großen Familienkreis, denn in der Einigkeit sah man die Stärke gegen die Mächte der Finsternis.


Wie wird der Brauch gelebt?
Der Silvestertag war gefüllt mit Vorbereitungen und magischen Momenten, um das Schicksal des kommenden Jahres zu ergründen.
Orakel und Weissagungen
Ein bis heute lebendiger Brauch ist das Bleigießen. Das flüssig gemachte Blei wird in kaltes Wasser getaucht, wo es bizarre Formen annimmt. Die Deutung dieser filigranen Gebilde sollte die Zukunft enthüllen. Ein Adler versprach baldige Heirat, ein Fass kündete Wohlstand, Sterne brachten Glück und ein Kreuz war ein Zeichen für Leid.
Auch das Wetter wurde zum Orakel. Kam der Wind aus Osten, verhieß es ein gutes Obstjahr. Blies er aus Westen, war der Milchertrag sehr gut, während Nordwind Sturm und Kälte ankündigte. Weitere Weissagungen wurden aus Apfelschalen, durch Kartenlegen oder das Werfen von Schuhen gezogen. Sogar 12 mit Salz bestreute Zwiebelschalen dienten dazu, anhand des Flüssigwerdens des Salzes festzustellen, welcher Monat Regen bringen würde.
Bräuche im Odenwald
Der bäuerliche Odenwald hatte seine ganz eigenen Rituale:
– Schutz für die Obstbäume: Am Silvestertag wurden die Äste der Obstbäume hochgebunden und ein klebriges Strohseil um den Stamm gewunden, um die weiblichen Frostspanner beim Emporsteigen zur Eiablage abzuhalten.
– Der Neujahrsgruß in der „Gutt Stubb“: In den Bauernfamilien versammelten sich alle in der „Gutt Stubb“. Der Großknecht überbrachte dem Hausherrn und seiner Gattin in Festtagstracht den überlieferten Neujahrsgruß, der Gesundheit, langes Leben, Frieden und ewige Glückseligkeit wünschte. Die Anwesenden wurden mit Gaben wie Kleidungsstücken und kleinen Geldgeschenken bedacht. Die Kinder freuten sich über die „Hutzelneijohr“, runde Brotkuchen mit eingebackener Zwetschgenmarmelade.
– Der Nachtwächter: In der Silvesternacht zog der Nachtwächter seine Runden und trug vor jedem Haus einen segensreichen Spruch vor, wofür er Spenden erhielt, die sein karges Gehalt aufbesserten.
– Anschießen und Treffpunkt Wirtshaus: Die erwachsenen Männer trafen sich im Dorfwirtshaus beim Kartenspiel. Pünktlich um Mitternacht gab es vom Wirt Neujahrsbrezeln sowie „Woarscht un Weck“. Während die Verheirateten heimkehrten, zogen unverheiratete Burschen zum Haus ihrer Liebsten, um dort ihre Neujahrswünsche anzuschießen, ein gefährlicher, später verbotener Brauch mit scharfen Schüssen, der erst durch das Aufkommen der Feuerwerkskörper abgelöst wurde.
Neujahrsmorgen
Am Neujahrsmorgen war es üblich, Verwandten, Bekannten und Freunden persönlich seine Aufwartung zu machen. Die Kinder zogen von Haus zu Haus, wünschten Großeltern und Paten mit eingeübten Sprüchen Glück und Gesundheit. Als Dankeschön erhielten die Kleinen begehrte Neujahrsbrezeln mit Dürrobst oder kleine Münzen. Kinder, die mit sogenannten Heischesprüchen ihre Neujahrsgaben sicherten, erhielten oft auch „Neujahrsläbelin“, kleine, verzierte Laibchen aus Brotteig. Kein Hausbesitzer wollte sich nachsagen lassen, er habe die guten Wünsche der Kinder ignoriert.
Der Jahreswechsel war auch die Zeit, in der Mägde und Knechte ihre neue Stellung antraten. Mit einem richtigen Umzug, begleitet von ihrer Spinnstubengemeinschaft, wurde der Kasten (Truhe) mit all ihren Habseligkeiten zur neuen Arbeitsstelle gebracht. Zur Feier der überstandenen Mühe gab es den „Wanderwoi“ oder „Bündelwoi“, begleitet von ausgelassenem Singen und Tanzen.
So lebendig und tief verwurzelt feierte man einst Silvester und Neujahr im Odenwald, ein Geflecht aus Furcht vor dem Unbekannten, hoffendem Glauben und herzlicher Gemeinschaft.


