Spinnstube im Odenwald

Wie ist der Brauch entstanden?

In vergangenen Zeiten waren die Spinnstuben der emotionale und geistige Mittelpunkt der dörflichen Winterabende im Odenwald. Diese Treffen dienten nicht nur der notwendigen Arbeit, sondern auch dem lebhaften Austausch von Neuigkeiten. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass die Spinnstuben die ländliche Kultur und das Brauchtum pflegten und weitergaben. Sie waren der Ort, wo Lieder, Tänze, Märchen und Gedichte immer wieder vorgetragen wurden, wodurch das überlieferte Gut von Generation zu Generation bewahrt wurde und nicht in Vergessenheit geriet. Das Spinnrad selbst war das Sinnbild des häuslichen Fleißes und durfte auf keinem Aussteuerwagen einer Braut fehlen. Die harte Landarbeit, die durch Aussaat, Pflege und Ernte das dörfliche Leben bestimmte, forderte die Odenwälder Jugend bereits früh. War die eigentliche Arbeit getan, schufen sich die jungen Menschen in der Zeit von November bis zur Fastnacht ihr eigenes Vergnügen, die Spinnstube.

Wie wird der Brauch gelebt?

In den größeren Dörfern wusste man bereits im Spätherbst, in welcher Zusammensetzung man sich traf. Die Mädchen versammelten sich meist dienstags und donnerstags nach dem Abendessen, das Spinnrad unter dem Arm, in den reihum zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten der Familien. Flachs, Hanf oder Schafwolle wurden versponnen, die Räder drehten sich, und die Spulen füllten sich schnell mit dünnen Fäden. Begleitet vom typischen Rauschen der Spinnräder, klangen die munteren Gespräche und der Gesang junger Mädchenstimmen durch den Raum.

Doch die Arbeit am Spinnrad sollte nicht lange ungestört bleiben. Insgeheim warteten die Mädchen auf die jungen Burschen, die sich auf den Weg machten, um sich dem fröhlichen Reigen in der „Gutt Stubb“ anzuschließen. Kaum waren die Burschen da, gewann der Schabernack die Oberhand. Mit dem Ziel, den Mädchen näherzukommen und ihnen vielleicht einen Kuss zu rauben, wurden Spulen versteckt, der Rocken (der Holzstab für das Spinnmaterial) verschwand plötzlich, und wie von Geisterhand reißt der gesponnene Faden.

Das gemeinsame Treiben machte hungrig, und so kamen Essen und Trinken der Gastgeber auf den Tisch, was dem Schabernack ein Ende setzte. Gestärkt sang man wieder alte Lieder, deren Ursprung oft schon vergessen war, aber auch spontan entstandene, komische Vierzeiler, die sogenannten Traller, die oft eine anwesende Person auf die Schippe nahmen. War genügend Platz vorhanden, wurde spontan das Tanzbein geschwungen, wobei Tänze wie der Odenwälder Dreischrittdreher oder die Kreuzpolka beliebt waren. Untermalt wurde das Ganze von Harmonika, Akkordeon oder der Geige. Zwischen Liedern und Tänzen holten Sagen- und Märchenerzähler ihre heiteren oder auch grausigen Geschichten hervor und bewahrten so das Kulturgut.

Als der Abend langsam zu Ende ging, machten sich Burschen und Mädchen gemeinsam auf den Heimweg. Unterwegs wurden die zuvor gehörten Schauergeschichten in Erinnerung gerufen. Furcht auf dem Nachhauseweg war da programmiert, doch man hatte seinen Beschützer zur Seite, an den man sich klammern konnte, um die Angst zu überwinden. Die Spinnstube war einer der wenigen Orte, wo ungezwungen Kontakt zum anderen Geschlecht geknüpft werden konnte. Dabei achteten die Familien darauf, dass sich nur etwa gleiche soziale Stände trafen, denn es galt: „Mer muss druff achte, dass die Sach zusomme gehoalde werd!“ (Man muss darauf achten, dass die Sache zusammengehalten wird!).