Wie ist der Brauch entstanden?
Der Tod ist, ebenso wie die Geburt, ein natürlicher Teil des Lebenskreislaufs. Auch die Menschen im Odenwald erkennen diese natürliche Abfolge des Daseins an. Über die Jahrhunderte hat sich hier, wie überall, ein reiches Geflecht an Ritualen und Bräuchen um Tod und Trauer gesponnen. Diese Traditionen haben sich teils bis in die heutige Zeit erhalten, auch wenn der tiefere Sinn mancher Sitte heute nicht mehr ganz leicht zu ergründen ist.
Tief im Volksglauben verwurzelt war die Suche nach Vorzeichen, die ein bevorstehendes Ereignis von besonderer Bedeutung ankündigten. Ein nahender Tod wurde beispielsweise durch den Ruf des Steinkauzes – auch „Todesvogel“ genannt – mit seinem charakteristischen „Kiwitt“ angedeutet, oder durch den Ruf der Eule. Auch in der Natur sah man Hinweise. Wenn Rübe, Bohnen oder Klee weiße Blätter trieben, oder wenn ein Obstbaum zweimal im Jahr blühte, galt dies als ernstes Omen. Selbst das Stehenbleiben der Uhr im Haushalt wurde als Zeichen für den Tod eines nahen Angehörigen gedeutet.
Der Odenwälder wusste, dass auch seine Zeit zum Abschiednehmen kommen würde. Deshalb legte er oft zu Lebzeiten Erspartes zurück, um sich eine „Schöne Leich“ zu sichern, also ein besonders würdevolles und großzügiges Begräbnisfest. Ein weiterer wichtiger Schritt im Leben war, dass „die Sach“ (das Erbe) noch vor dem Ableben geregelt und übergeben war.


Wie wird der Brauch gelebt?
Wenn die Zeit des Abschieds gekommen war und ein Mensch sein Lebensziel, den Tod, erreicht hatte , begann eine Reihe von Ritualen, um dem Toten die „letzte Ehre“ zu erweisen und ihm den Übergang ins Jenseits so angenehm wie möglich zu gestalten.
Zuerst musste die „Leich ausgesagt“ werden. Neben dem Gang zu Kirche und Behörden mussten die Verwandten über das Ableben informiert werden. Dies war oft die Aufgabe des „Leichenbitters“. Die Einladung zur Bestattung nannte man „zur Leich heißen“.
Im Haushalt des Verstorbenen wurden alle Uhren angehalten, um sie erst nach der Beisetzung wieder in Gang zu setzen. Die Fenster wurden geöffnet, damit die Seele leichter aufsteigen konnte und die Spiegel im Sterbezimmer wurden verhängt. Die Lagerstatt des Toten, meist aus Stroh, wurde unverzüglich verbrannt. Sogar Vorratsfässer im Keller wurden beklopft, Sämereien geschüttelt und Bienenkörbe gelüftet.
Der Leichnam wurde sorgfältig gewaschen und in die besten Sonntagskleider, die Hochzeitskleider oder ein eigens gesponnenes und gewebtes Totenhemd, auch „Totenmantel“ genannt, gekleidet. Im Totenhaus erfolgte die Aufbahrung im Sterbezimmer.
Totenwache und Letzter Gang
Am offenen Sarg wurde die Totenwache gehalten, traditionell von männlichen Nachbarn und nahen Angehörigen. Um ihnen die Wartezeit zu verkürzen, wurden Speisen und Wein gereicht, was mitunter zu einem recht ausgelassenen, „zünftigen“ Beisammensein führte. Ein kleines, abgeschirmtes Licht, das Totenlicht, brannte im Aufbahrungszimmer, um den Toten nicht zu stören und böse Geister zu vertreiben. Dieses Licht durfte nie gelöscht werden, sondern musste von selbst erlöschen.
Der Sarg war zumeist aus schwarzem oder dunkelbraunem Holz, nur Kinder erhielten einen weißen Sarg. Er blieb offen, bis der Pfarrer den Segen erteilt hatte, damit jeder die Möglichkeit zum Abschied hatte. Beim Hinaustragen aus dem Haus musste darauf geachtet werden, dass der Tote mit den Füßen zuerst getragen wurde, um ihm die ewige Ruhe zu ermöglichen.
Trauer und Abschied
Im Trauerzug galt die Teilnahme eines jeden Haushaltsmitglieds als Ehrensache, denn jeder wusste, dass ihm selbst diese Ehre später zuteilwerden würde. Der Ausspruch: „Der/die hoat awwer e grouße Leich“ (Der/die hatte aber eine große Leiche) galt als Zeichen, dass die Person über den Tod hinaus geschätzt wurde.
Die Farbe der Trauer wandelte sich im Odenwald von ursprünglich „weiß“ hin zu dem heute vorherrschenden „schwarz“. Frauen trugen schwarze Häubchen. Das Freud- und Leidtuch, ein spezielles Schultertuch, wurde im Trauerfall mit der dunklen, spärlich oder gar nicht bestickten Seite nach außen gekehrt, um die Trauer sichtbar zu machen.
Der letzte Gang führte vom Sterbehaus zum Kirchhof an der Kirche oder zum außerhalb gelegenen Friedhof. Begann der Trauerzug, läuteten die Kirchenglocken, was als „Ausläuten“ oder „Schiedungsläuten“ bezeichnet wurde. Die Stellung des Verstorbenen konnte man am Klang der Glocke erkennen. Große Glocke für Verheiratete, mittlere für Ledige, kleine für Kinder und keine Glocke für Ungetaufte.
Totenkrone und Grabhügel
Starb ein unverheirateter junger Mensch, so wurde der Sarg oder das Grab mit einer Totenkrone geschmückt. Sie symbolisierte die Vermählung, die dem Verstorbenen im irdischen Leben versagt blieb. Die Totenkrone, gestiftet von Pate oder Patin, war ein kunstvolles Gebilde aus Weiden- oder Drahtgestell, geschmückt mit bunten Papierblumen, Glasperlen und Flittergold. Später zierte sie den Grabhügel.
Der Abschluss der Bestattungsfeierlichkeiten war der Flannerts, der Leichenschmaus. Der Name leitet sich vom Wort „flennen“ (weinen) ab. Wenn es die Mittel des Verstorbenen zuließen, wurden die Gäste üppig bewirtet, zumeist im Totenhaus. Eröffnet wurde der Flannerts mit Kaffee und dem Petzekuchen, einem einfachen, verzierte Hefeteigkuchen. Nach dem zurückhaltenden Beginn konnte der Flannerts im Laufe des Abends durch reichlichen Alkoholgenuss mitunter recht deftige Auswüchse annehmen, es soll sogar getanzt und gesungen worden sein.
Die offizielle Totentrauer für nahe Angehörige erstreckte sich traditionell über ein ganzes Jahr, in dem Tanzen und die Teilnahme an Festlichkeiten untersagt waren.



